Ortler Jubiläum 2004

Hans Pertings Beitrag zum
Ortler Jubiläum 2004

Zum Anlass des Gedenkjahres 2004,
der 200. Wiederkehr der Erstbesteigung des Ortlers
durch Josef Pichler, dem Psairer Josele.

IM HIMMEL ÜBER SULDEN
AUS DER ZEIT DER VERTIKALEN TRÄUME
Im Himmel über Sulden

Der Auspuff des kleinen Motorrollers ist überhitzt.
Spuckt hysterisch. Protestiert.
Zwei Stunden Fahrt.
Von Mals nach Sulden.
25 km, 900 Höhenmeter.
Gesetzlich zugelassen für eine Person.
Gezwungen, zwei Burschen zu befördern.
Mit Rucksäcken beladen.
Und Seil und Pickel.
Der 50-er Motor ist mit Äther gedopt.
Und mit einem 19-er Vergaser bestückt.
Noch gibt`s keinen TÜV.
Und die Carabinieri drücken alle Augen zu.
Bei Burschen, die auf Berge steigen.
Statt sich vollaufen zu lassen.
Oder zu kiffen.
Die Kolben spucken hysterisch. Protestieren.
Wie unsere Gelenke.
Knarren und knarzen.
Nach zwei Stunden Bergfahrt.
1981. Sommer. Sulden.
Ein ganz normaler Wochentag.
Geschäftige Ruhe.
Wie immer in Sulden.
Wir parken vor der Bar Ilse.
Bei Konny. Dem Urgestein.
Dem Bergsteigertreff.
„Wohin? Ihr Teufelskerle?“
„Vertain. Hängegletscher.“
„Die Cola geht auf meine Kosten.“
„Vergelts` Gott, Konny.“
Vertain-Hängegletscher.
Für siebzehnjährige Buben gerade recht.
Zum Hineinschnuppern.
In die höhere Bergwelt.
Die Cola schmeckt köstlich.
Von Konny spendiert, doppelt so gut.
Ein alter Mann tritt zu uns.
Weißhaarig, weißbärtig.
Betrachtet den überhitzten Motorroller.
Lauscht dem knirschenden Motor.
Lächelt.
Nickt mit dem Kopf.
„Ja mei, die Zeiten ändern sich halt.“

Im Himmel über Sulden

Sommer 1981.
Sulden feiert ein Jubiläum.
50 Jahre Erstbegehung von Ortler- und König-Nordwand.
Anno 31. Hans Ertl, Franz Schmid, Hans Brehm sind die Helden.
Der weißhaarige Mann hat blaue Augen.
Der weißhaarige Mann hat einen weißen Bart.
Der weißhaarige Mann ist Hans Ertl.
Wie er leibt und lebt.
Hans Ertl, der Bolivianer.
Der Aussteiger. Der Bergvagabund.
Der Rückkehrer auf Zeit.
Der Held. Unser Held.
Vor fünfzig Jahren ist er noch mit dem Fahrrad von München nach Sulden geradelt.
Einem gusseisernen.
Und dreißig Kilo Gepäck.
Zusammen mit Franz Schmid.
Mit einem einfachen Pickel hacken sie 1200 Stufen durch die Ortler-Nordwand.
Mit 10-Zackern an den Füßen. Und einem Hanfseil um den Bauch.
18 Stunden Himmelfahrtskommando.
14 Tage später: dasselbe in der König-Nordwand.
Mit Hans Brehm.
16 Stunden Eishacken.
Dann hat die Berggeschichte einen neuen Limes.
Und neue Helden.
Giganten. Titanen.
Die Grenzen niederreißen.
Grenzen verschieben.
Neue Grenzen setzen.
Ins Unendliche.
1931. Unvorstellbar.
Und nun: 50 Jahre später.
Er lächelt. Der Bolivianer.
Hans Ertl. Unser Held.
Wir stehen stramm.
Mit leuchtenden Augen.
Tausend Fragen im Munde.
„Wie war es? Früher? Herr Ertl?“
„Früher?“
„Früher. Das Bergsteigen? Das Abenteuer?“
„Anders, Buben. Anders.“
Wie anders?
Sprich zu uns.
Bitte. Erzähl uns.

Im Himmel über Sulden

Von früher.
Von den Eiswänden.
Von Hanfseil und 10-Zackern.
Vom Klettern.
Vom Vagabundensein.
In den Bergen Europas.
Früher. Wie war es früher?
Der weißbärtige Mann lächelt lange in die Nordwände hinein.
Weckt alte Geschichten. In seiner Erinnerung.
Lange schweigt er.
Schweigt und lächelt.
Eine Handbewegung wischt die Verlorenheit weg.
„Die Zeiten haben sich überall geändert.
Dort in Bolivien. Hier in Sulden.
Sogar die Wände verlieren ihr Eis.
Verlieren ihr Gesicht.
Verändern sich mit der Geschichte.
Ändern die Geschichte.“
Hans Ertl steht auf.
Die blauen Augen lächeln uns an.
„Es ist nicht schwer ein guter Bergsteiger zu werd
en.
Es ist schwer ein alter Bergsteiger zu werden.“
Er öffnet seine Hände.
Spannt den Bogen über Suldens Himmel.
Zeigt auf die Vertainspitz`.
Zeigt auf den Ortler.
„Heute der Hängegletscher.
Morgen die Nordwand.
Passt auf, junge Burschen. Auf euch. Berg Heil!“
Dann biegt er um die Ecke.
Und verschwindet.
Für immer. Aus meinem Leben.
Ich werde Hans Ertl nie mehr begegnen.
Er wird in seinen bolivianischen Wald zurückkehren.
Und mir den Sinn seiner Botschaft vermachen.
Und das Lächeln seiner blauen Augen.
1981. Ein großer alter Mann tritt ab.
Ein neuer Grenzenversetzer tritt auf.
Durchklettert am nächsten Tage alle drei großen Eiswände.
Hintereinander. In knapp zehn Stunden.
Ortler-, Zebrù- und Könignordwand.
Die schwierigsten Eiswände der Ostalpen.
Mit dem Lächeln Hans Ertls auf den Lippen.
Und seinem großen Schweigen.
Reinhard.
Reinhard Patscheider.
Der Alleingänger.
Der neue Grenzenversetzer.
Im alpinen Europa.
Eiger-Nordwand: in weniger als fünf Stunden.

Im Himmel über Sulden

Matterhorn-Nordwand: in knapp mehr als zwei Stunden.
Holl-Witt-Route am Ortler: in dreieinhalb Stunden …
Der einfache Bauernbursch aus Langtaufers lächelt.
Und schweigt.
Und setzt neue Grenzen.
Oktober 1983.
Kurz vor dem Dunkelwerden.
Tabaretta-Hütte. Am Fuße des Ortlers.
Mit einem Fernglas tasten Robert und ich die Nordwand ab.
Versuchen uns den Einstieg einzuprägen.
Die klassische Route.
Die Varianten.
Den Ausstieg.
Die Rote Wally erzählt uns die Geschichten dieser Wand.
Die Märchen und Mythen.

Die Dramen und Tragödien.
Heldentum und Firlefanz.
Als Hüttenwirtin weiß sie alles.
Vom Anbeginn der Wandzeiten an.
Von allen, die an die Wand herangegangen sind.
Von denen, die durchgekommen sind.

Von denen, die gescheitert sind.
Von wunderbaren Tagen.
Von unaussprechlichen Tragödien.
Der leichte Wind lässt mich frieren.
Und Wallys Geschichten auch.
Da legt sich eine Hand auf meine Schulter.
„Koa Angst. S`Wetter hebb. Und kolt isch`s aa.“ 1
Blaue Augen lächeln mich an.
Reinhard Patscheider.
Er ist gerade von Sulden aufgestiegen.
Mit Kurt.
Den er am nächsten Tag durch die Nordwand führen will.
Beim Abendessen taut Reinhard auf.
Erzählt von seinen Touren.
Von mythischen Bergen.
Von unerhörten Träumen.
Von unerhörten Routen.
Durch die unendlichen Wände der Anden und des Himalaya.
Langsam tröpfelt die Zeit durch die Nacht.
Durch mein Hirn.
Durch die nächtlichen Wachträume.
Bis uns ein leises „Auf!“ aus den Lagern scheucht.
Aus der Hütte.
Zum Einstieg hin.
Zum tausendsten Mal die gleiche Bewegung.
Die gleiche Handlung.
Das gleiche Tun.
Sitzgurt. Brustgurt. Steigeisen. Helm. Zwei kurze Eispickel.

1 „Keine Angst. Das Wetter hält. Und kalt ist` s auch.“

 

Im Himmel über Sulden

Der gleiche Mutmachscherz, das gleiche „Losgeht`s“.
Und doch ist wieder alles neu.
Wie bei jeder Tour.
Weil kein Tag und keine Nacht gleich sind.
Weil wir selber nie die selben sind.
Weil kein Berg gleich ist.
Und auch die gleiche Wand niemals dieselbe ist.
Wir steigen rasch.
Ohne Seil und Sicherung.
Wie auf Flügeln.
Über wunderbaren, harten Firn.
Bis zur Ertlführe.
Wo blankes Eis zutage tritt.
Wo wir uns anseilen.
Wo sich unsere Routen trennen.
Reinhard und Kurt klettern durch die Ertlführe.

Robert und ich steigen zwischen blaugrünen Eisbalkonen durch die Wand.
Erster Eispickel, zweiter Eispickel, drei kleine Schritte.
Erster Eispickel, zweiter Eispickel, drei kleine Schritte.

Über blaues Gletschereis. In den Himmel hinein.
Das Klingen der Eispickel, das Klacken der Steigeisen wird zu einem beruhigenden Rhythmus.
Verbläst die letzten Reste von Angst.
Schafft zeitbegrenzte Unsterblichkeit.
Die nur der Bergsteiger erfahren kann.
Der zwischen Himmel und Erde balanciert.
Im zeitlosen Raum.
Erste Randspalte.
Einige Meter senkrechtes Eis.
Zweite Randspalte.
Nicht mehr so steil.
Dann legt sich die Wand zurück.
Die Vertikale geht langsam in die Berghorizontale über.
Die Sterblichkeit kehrt zurück. Die Seele.
Von Ihrer Wanderung.
Auf der Schneide zwischen Diesseitsland und Jenseitsland.
Unbändige Gipfelfreude.
Freudentaumel.
Grenzenlos.
Und grenzenloser Respekt.
Vor dem Ersten.
Der einst hier oben stand.
Vor dem Psairer Josele.
Dem gräflichen Jäger zu Churburg.
Unfassbar.
Die damalige Leistung.
Der Rückweg ist ein Fliegen.
Über Gletscherflanken.
Über Grate. Emotionen.
Vorbei an Payerhütte.
Auf Tabaretta klirren die ersten Gläser.
Die Rote Wally trägt unsere Namen in ihr Nordwandbuch ein.
Konny feiert uns in Sulden.
Reinhard lächelt.
Und schweigt.
Wieder.
Reinhards Licht flackert viele Jahre.
Hell und klar am Bergsteigerhimmel.
Die Schaumrolle am König. Direkt. Im Alleingang.
El Capitan. Cerro Torre. Annapurna.

Im Himmel über Sulden

Er wird er erste Mensch sein, der den Gipfel des Everest vom Basislager aus,
ohne Höhenlager, ohne künstlichen Sauerstoff, ohne fremde Hilfe,
nach knapp 22 Stunden erreicht.
Ein absurder Eisregen im Sommer 1998 wird ihm und seinen zwei Gästen am Grand Combin zum Verhängnis.
Die Lebensparabel eines der besten Alpinisten der Gegenwart verglüht jäh am Himmel.
Reißt ein nicht zu schließendes Loch in die Familie.

Und in die Alpingeschichte.
Im Herbst 2000 stirbt Hans Ertl.
In Bolivien.
Alt und vereinsamt.
Im Sommer 2001 bricht des Königs Schaumrolle ab.

Eis und Geschichte zerbröseln in dunkler Nacht.
Symbolhaft. Wird des Erstbegehers Gedächtnis mit blauem Eis verhüllt.
Verändert sich die Zeit.
Verändert sich der Raum.
2004. Meine eigenen Steileisgeräte hängen seit Jahren am Nagel.
Nicht endgültig.
Aber auf unbestimmte Zeit.
War alles ein vertikaler Traum?
Im Himmel über Sulden?
Des Logos` Flügelschlag?
Das Lächeln eines Gottes?
Über jugendliche Unbekümmertheit?
Wenn ich abends in der Stube sitze.
Wenn der letzte Sonnenrest an Ortlers Gipfel verglüht.
Wenn der Abendhimmel über Sulden wie das Gewölbe einer Kathedrale leuchtet.
Wenn meine kleinen Töchter mich belagern.
Wenn wir gemeinsam malen und balgen und Märchen lesen…
… dann frage ich mich, wieder und immer wieder, ob ich einst wirklich durch Suldens Nordwände geklettert bin.
Mit dem Lächeln der Unsterblichen Jugend auf den Lippen.
In torhafter Gewissheit, schneller als jedes Unglück zu sein.
Dann schau` ich in die strahlenden Augen meiner Kinder.
Und dann weiß ich, dass unsere Bindung stärker ist, als der verlockendste Ruf der schönsten Wand.
Und ich könnte den höchsten Gipfel der Erde mit keinem Kinderlächeln tauschen.

Hans Perting, Mals 2004
(eigenhändige Zeichnungen von Hans Perting)

Im Himmel über Sulden