SELMA MAHLKNECHT
Betrachtungen über den „Kranich“
von Hans Perting
„Die Welt ist fünf Stunden lang.“ Bereits mit dem ersten Satz werden die Maßstäbe gesetzt, welche die Erzählung bestimmen werden: Schrittlängen, Atmung, Vogelflug, Aussaat, Ernte – eingepfercht in den engen Begrenzungen eines Tales, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, zumindest nicht für jene, die sich an die Regeln halten, ihren Hut ziehen und die Handfessel des Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten lassen.
Die Welt ist fünf Stunden lang. Wir folgen dem jungen Raetho in diese Welt, aus der er sich Stück für Stück hinaustastet, die er in ihrer Beschränktheit zu begreifen beginnt, deren Umklammerung ihn aber nicht loslassen wird, niemals, selbst dann nicht, als er sie wie eine überlebte Haut abgestreift zu haben meint, als er hinauswächst über seine fünf Stunden bei gutem Schritt, als er die Unendlichkeit da draußen erkennt und letztlich in dieser Unendlichkeit wieder dieselben Grenzen von vorher, die er überschreiten muss, wieder und wieder, bis zum Schluss.
Aber zunächst ein Wort zur Form des Hörbuchs. In den letzten Jahren hat das Hörbuch einen beachtlichen Aufschwung erlebt, wobei die unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle spielen, etwa, dass so auch während des Autofahrens, Bügelns oder Badens „gelesen“ werden kann, und das allein oder zu mehreren ohne den mühsamen Streit darum, wann umgeblättert wird. In erster Linie vermittelt das Hörbuch das wohlige Gefühl des Erzählt-Bekommens, als säße man als Kind zu Füßen des Märchenonkels und lausche andächtig. Im Falle des „Kranichs“ heißt der Märchenonkel Karl Heinz Macek, und seiner warmen Stimme vertraut sich der Leser gerne an. Macek gelingt es auf beeindruckende Weise, nicht nur verschiedene Stimmungen, sondern auch unterschiedliche Sprechnuancen, Tonlagen und Dialekte zu vermitteln: vor dem inneren Auge des Hörers entsteht ein weiter Klangkosmos, getragen einzig von wenigen Musikeinsprengseln und eben der farbenreichen Erzählweise Maceks, in der die Figuren in plastischer Lebendigkeit spürbar werden. Seine interpretatorische Brillanz wird lediglich von einigen bedauerlichen Ungereimtheiten in der Aussprache getrübt: zwanzi“ch“, dann aber wieder Köni“g“, „Ku“elle (statt „Kwelle“) usw., auch die wechselnde Aussprache des Namens Raetho (manchmal „Räto“) irritiert zuweilen.
Die Welt ist fünf Stunden lang. Es ist eine nahezu mythische, archetypische Welt, in die uns Hans Perting führt. Schroffe Landstriche, grobe Menschen, wortkarg, denn was gibt es schon zu reden, und auch die Erzählweise selbst folgt diesem Motto: über weite Strecken erzählt sie lakonisch und ohne Sentimentalität vom Leben in seiner Härte, bleibt in den Formulierungen sachlich und fast distanziert, wodurch eine umso authentischere Vermittlung dieses Lebensgefühls entsteht, das solche Bergtäler prägen mag. Als Kunstgriff wird die Wiederholung gesetzt, die etwa schon mit dem ersten Satz einsetzt: Die Welt ist fünf Stunden lang. In einer über mehrere Abschnitte hinweg anwachsenden Klimax jedoch wird diese Formulierung aufgeweicht, relativiert, wie eben diese Wahrheit auch in Raetho zu wanken beginnt. Der Autor macht sich somit zum Sprachrohr der Hauptfigur, erzählt dessen Sichtweise der Welt und verzichtet auf die Allwissenheit der auktorialen Perspektive – allerdings nicht immer. An manchen Stellen bricht das dichte Erzählgefüge auf, nahezu lyrische Elemente werden eingestreut, teilweise auch Ansätze zu philosophisch-essayistischen Betrachtungen. Nicht immer sind diese gleich gelungen – etwas fragwürdig etwa das Zitieren aus „Faust“, und zwar nicht an sich, sondern im konkreten Zusammenhang mit der gewählten Sprache, hier mischt sich zu sehr gelehrter Duktus mit der bodenständigen Ausdrucksweise des Bergvolks, was zu etwas abrupten Brüchen mit der Kohärenz des Textes führt. Überhaupt ist an manchen Stellen des Guten zuviel zu bemerken, etwa bei den vorher schon angedeuteten Wiederholungen. Werden sie zum Teil sehr wirkungsvoll eingesetzt (wie beim erwähnten Anfangssatz), wirken sie an manchen Stellen redundant, etwa bei der zunehmenden Häufung der Epitheta, die dem grenzgängerischen Valentin zugeordnet werden. Hier schleicht sich das Gefühl künstlerischer Anstrengung ein, während andere Teile der Erzählung so mühelos, nahezu „von selbst“ zu sprechen scheinen. Besonders hervorzuheben sind hier die Abschnitte über den Pfarrer Mairösl, „gran fascista“ und Wetterzauberer, eine durch und durch geglückte Figur. Hier verlässt sich der Autor auf seine Inhalte – und die Form folgt wie selbstverständlich. Zugleich entfaltet sich hier auch Pertings hintergründiger Humor am meisten, der zwar auch anderweitig aufblitzt, nie aber so frisch und augenzwinkernd wie bei dieser Figur. Dadurch gewinnt die Erzählung an Leichtigkeit, die bedrückende Enge der Berge und Köpfe wird erträglicher, und doch steht am Ende immer wieder die Flucht. Es ist eine Flucht letztlich, deren Ausgangspunkt zugleich auch ihr Ziel ist: die Heimat. Raetho aber bleibt ein Unbehauster, der keine Wurzeln schlagen kann, der nirgends Halt findet, um Wurzeln zu schlagen, an keinem Boden, an keinem Menschen. Dies zu vermitteln, ist wahrhaft gelungen – zuweilen tun sich zwischen den Zeilen Momente der Betroffenheit auf. In seinen dunklen, beengenden, aber dann doch auch wieder lichteren und meditativen Stimmungen ist „Der Kranich“ ein fein gewebter Text, der Zwischentöne anschlägt und Schattierungen erkennen lässt. Etwas schwerer tut sich der Leser mit seiner Chronologie. Lehenswesen und Faschismus, erster Weltkrieg, zweiter Weltkrieg, Tourismus und Weltvergessenheit – man wird stutzig und fragt sich, wie das zusammenpasst (selbst in der literarischen Fiktion sollte zumindest der geschichtliche Rahmen nachvollziehbar sein) Auch ist das Alter der Figuren nicht ganz klar, etwa, wann sich Raetho und seine erste Liebe kennen lernen. Nach dem ersten Weltkrieg? Aber dann müsste sie bei dem nächsten Krieg bereits über dreißig Jahre alt sein, für eine Frau damals zu alt, um noch ledig zu sein. Hier also herrscht Verwirrung, die allerdings insofern weniger ins Gewicht fällt, als die historischen Hintergründe für die Hauptthemen der Erzählung recht unerheblich sind.
Eines jedoch ist wirklich schade: Die Erzählung endet zu früh. Nach Raethos Eintritt in den Weltkrieg, als sich eine neue Geschichte und neue Figuren auftun und die Grenzen des Valanga-Tales endgültig gesprengt scheinen, erhöht der Autor das Tempo, kaum gibt es noch Zeit, um innezuhalten, schon folgt die Heimkehr mit der „Negerfrau“ und bald darauf fast ohne Umschweife das Ende. Schade, denn gerade hier bekommt man Appetit auf mehr, auf Auseinandersetzung des neuen Raetho mit seinem früheren Umfeld, das offenbar keinen Schritt weitergekommen ist in seiner Entwicklung. Ein Wermutstropfen.
Nachhaltig bleibt jedoch der Eindruck von starken Figuren, die aus ihrer Fiktion heraustreten und eine höhere Wahrheit bezeugen: die Wahrheit der vielen „Valanga-Täler“ mit ihren betenden Müttern, schweigsamen Bauern, opportunistischen Priestern, mit ihren Borniertheiten und Aberglauben, mit ihren Schmugglern und Grenzgängern und mit ihren Kranichen, von denen niemand mehr weiß.